Samstag, 5. November 2011

Feuer in IC 2814

4.11.2011: Der für den ausgefallenen ICE 776 vom Schrottplatz geholte und vollkommen überfüllte IC 2814 fällt auf der Fahrt von Frankfurt nach Oldenburg seinerseits aus -- und zwar durch Feuer an Bord.

Zwischen Kassel und und Göttingen breitet sich beissender Rauch in den Wagons aus, den die Passagiere zunächst noch auf zu heftiges Bremsen zurückführen wollen. Der Rauch wird allerdings zunehmend dichter und man sieht Zugpersonal hektisch von vorne nach hinten durch den Zug rennen. Der Zug rumpelt noch etwas weiter und bleibt dann auf freier Strecke stehen.

Die Luft wird schnell schlechter. Minutenlang keine Durchsage und keine Erläuterung durch das sichtbar rat- und hilflose Personal. Unruhe breitet sich aus. Die Türen sind verriegelt.

Dann irgendwann, nach absurd langer Zeit eine Durchsage vom Zugchef: "Der Zug wird evakuiert, damit wir Sie  aus den giftigen Dämpfen herausbekommen." Das war offenbar nicht die beste Formulierung -- unter den ohnehin schon etwas verängstigend Passagieren breitet sich teilweise Panik aus, wohl auch weil nach wie vor alle Türen und Fenster verschlossen sind. Etwas unglücklich auch, dass einige Türen mit Aufklebern "Tür unbenutzbar" versehen sind. Einige Passagiere beginnen Notaustiegsfenster zu öffnen bzw. einzutreten -- siehe Video:


Die Evakuierung zieht sich dann auch etwas hin. Die Passagieren stauen sich an den benutzbaren Türen. Ältere und gehandicapte Passagieren haben Schwierigkeiten, aus 1m auf das Gleisbett zu springen. Es kommt zu Stürzen. Glücklicherweise fanden sich genug Passagieren, um den anderen beim Verlassen und Herunterspringen zu helfen:


Auf dem Gleisbett versammeln sich dann nach und nach ca. 300 Passagiere -- die Situation ist etwas unübersichtlich. Es ist stockfinster, überall Rauch, Gestank von verbranntem Plastik. Der Zug steht auf der ICE-Strecke vor Göttingen. Man hofft, dass die Strecke mittlerweile gesperrt ist. Man hofft auf einen Ersatzzug oder eine andere Lösung.

Keinerlei Informationen vom Zugpersonal. Irritation macht sicht breit. Auf einmal beginnt das Zugpersonal an den Türen, die dort stehenden Passagiere wieder zum Einsteigen aufzufordern. Im Zug und auch ausserhalb immer noch Rauch. Immer noch keine Durchsage.

So langsam regt sich Widerstand. Die Passgieren würden gerne wissen, was der Plan ist und warum sie jetzt wieder in den immer noch verrauchten Zug einsteigen sollen:



Schliesslich lässt sich doch der Zugchef blicken. "Ich weiss noch nicht, was los ist. Bitte steigen Sie doch schon mal ein." Man schaut sich fragend an. Naja, mir erschien der Rauch im erste Klasse-Abteil doch etwas zu heftig -- ausserdem konnte ich mir nicht vorstellen, wie der Zug mit einem herausgerissenen Notaustiegsfenster weiter fahren sollte. Das war aber für das Zugpersonal offenbar kein Problem, das damit begann, die Leute wieder in den Zug zu verfrachten.

Ich bin dann erstmal am Zug entlang gelaufen, um zu gucken, ob es vielleicht etwas weniger verqualmte Wagen gibt. Das war zwar nicht der Fall -- dafür konnte ich aber Zeuge eines Telefonats zwischen Zugchef und Bahn-Leitung werden. Zugchef: "ich habe hier das Problem, dass sich die Leute weigern, wieder in den Zug einzusteigen" -- stille -- "Ja, ok, verstanden".

Danach weiterhin Aufforderungen doch endlich einzusteigen. Offenbar hat die Bahn-Leitung dem Zugchef klargemacht, dass die Passagiere mit dem Zug -- und nichts anders -- abzutransportieren seien. Aus Sicht der Bahn und ihrer Wirtschaftlichkeitsziele natürlich verständlich: Ersaztbusse für 300 Leute um diese Zeit -- das kostet....

Naja, aus Mangel an Alternativen beginnen einige Passagiere wieder mit dem Einsteigen, was sich natürlich auch wieder etwas hinzieht. Andere Passagiere weigern sich weiterhin. Zu Recht, denn alle Wagen sind immer noch voll mit Rauch. Mittlerweile ist offenbar Feuerwehr, Polizei und Notarztwagen oberhalb der Strecke angekommen.

Einige Zeit passiert nichts -- dann plötztlich eine Durchsage vom Zugchef: "wir werden jetzt Wagen für Wagen evakuieren -- bitte alle aussteigen -- sie werden mit Bussen abtransportiert". Die Leuten, viele ältere, die sich gerade wieder in den Wagen gequält haben, können es nicht fassen. Irre!

Meine Interpretation: Die mittlerweile eingetroffenen Einsatzkräfte haben dem komplett überforderten und von der Bahn-Leitung ferngesteuerten Zugpersonal klargemacht, dass dieser Zug jetzt nicht einfach so weiterfährt. Die Rettungskräfte machen das einzig richtige: Sie bringen die Passagiere schleunigst weg vom Gleis und dem qualmenden Zug:


Auf dem freien Feld, oberhalb des Bahndamms versammeln sich dann nach und nach ca. 300 Leute. Weitere Rettungskräfte treffen ein, und endlich können auch die Passagiere notärztlich  versorgt werden, die leider etwas mehr Rauch abbekommen haben:


Der Rest wartet auf die angekündigten Busse.

Ich nicht: Meine Desaster-Bahn Erfahrung sagt mir, dass dies ein langer Abend werden wird. Unter Zuhilfenahme von Google Maps gelingt es mir, ein Taxi aus Göttingen an die Unfallstelle zu dirigieren. Das Taxi kommt tatsächlich (vielen Dank nochmal an die Göttinger Funk-Taxi-Zentrale und die couragierte Fahrerin) und nimmt mich und drei weitere Personen mit nach Göttingen).

Es stellt sich heraus, dass dies genau die richtige Entscheidung war. Während ich noch auf's Taxi wartete, näherte sich aus der Ferne zwar ein erster Bus, der aber aus mir zunächst nicht ganz verständlichen Gründen wieder abdrehte und in der Dunkelheit verschwand. Bei den Wartenden macht sich Fatalismus breit.

Im Bahnhof Göttingen angekommen, warte ich auf den nächsten Zug Richtung Norden -- was dauerte, da die Strecke ja noch durch IC 2814 blockiert war. Nach einiger Zeit traf dann IC 2814 tatsächlich in Göttingen ein -- mit einigen Passagieren an Bord! Nach deren Aussage hat das Eintreffen der Busse doch noch etwas auf sich warten lassen. Die Bahn wollte dann die Strecke räumen und hat einigen Passagieren angeboten "auf eigene Gefahr" mit nach Göttingen zu fahren. Angeblich habe es auch noch einige Meinungsverschiedenheiten zwischen Bahn und Rettungskräften darüber gegeben, wie dringend die Busse wirklich gebraucht werden.

Fazit:

  • Die Bahn setzt regelmässig sichtbar unzulängliche, vollkommen veraltete ICs als Erstzzüge ein. Diese weisen sichtbare Mängel auf ("Tür nicht benutzbar") und sind oftmals viel zu klein, wie im Fall von IC 2814, der mit nur 5 Wagen eine komplette ICE-Passagier-Ladung aufnehmen sollte.
  • In den technisch defekten und komplett überfüllten Zügen kommt es dann seinerseits zu Problemen. Hier: Feuer an Bord -- besonders problematisch in überfüllten Zügen, in den die Türen defekt sind. 
  • Das Krisen- und Informationsmanagement der Bahn ist mal wieder unter aller Sau: Die Passagiere sitzen eine Viertelstunde in beissendem Rauch, keinerlei Durchsage, keinerlei Information durch das vorbeilaufenden Zugpersonal.
  • Die anschliessende Evakuierung -- eine einzige Farce, die überhaupt nur deshalb funktionierte, weil glücklicherweise Rettungskräfte eintrafen, die die Sache in die Hand genommen haben. Das Bahnpersonal hat sich -- wohl auch aufgrund der Fernsteuerung durch die Bahn-Leitung -- als komplett überfordert erwiesen.
  • Nicht zu verschweigen: Durch den quasi in Kauf genommenen Ausfall von IC 2814 war die ICE-Strecke zwischen Kassel und Göttingen lange Zeit blockiert, so dass eine Reihe von anderen Zügen ebenfalls deutlich verzögert wurde.
  • Am Ende stehen mindestens 4 Verletzte und 300 Leute (Kunden eigentlich), die durch die Reise mit der Bahn nicht nur Zeit und Nerven verloren haben, sondern auch in unverantwortlicher Weise gefährdet wurden. Mich würde es überraschen, wenn dies kein juristisches Nachspiel hätte.
  • Das System Bahn ist am Ende -- was nicht heisst, dass es nicht noch schlimmer kommt: DB-Vorstandsvorsitzender Dr. Rüdiger Grube bei der Präsentation der DB-Halbjahresergebnisse: "Die Zahlen sind Bestätigung und Auftrag, den eingeschlagenen Kurs fortzusetzen." Das klingt für mich wie eine Drohung...

Feuer in IC 2814 in der Presse:


















1 Kommentar:

  1. Also bei uns war das Krisenmanagement besser. Ich stand einmal in Horrem wegen eines Notarzteinsatzes mit dem RE fest. Etwa 20 Minuten. Hier war die Information klasse, man hat alle Paar Minuten den Aktuellen Stand der Dinge durchgesagt! Ein anderes Mal hing ich mit einem RE in Bonn-Beuel fest, weil ein S-Bahn Surfer aufgesprungen war. Hier wurden wir erst nach 10 Minuten informiert, was los war. Nach etwa 30 Minuten wurden alle Reisenden nach Köln gebeten, in den Nachfolgezug umzusteigen, der auf dem Not-gleis hielt (Der Zug hat wenige Meter nach dem Halt wieder angehalten).

    AntwortenLöschen